after the internet

1998 saßen wir das erste Mal vor einem Computer, der sich ins Internet einwählte. Das Geräusch des Modems – ein Knacken, Summen, Rauschen – ein Raum ohne Geschichte, ein Ort, an dem die Zukunft unendlich bereit lag. Wir waren 13 Jahre alt, und unser Leben begann, sich in Pixel zu zerlegen. 

In Chatrooms Personen, deren Gedanken wie geheime Nachrichten aus einer anderen Realität zu uns drangen. Ein Portal. Menschen, die sich hinter nicknames verbargen, aber auf seltsame Weise näher waren als jene draußen vor der Tür. Obskure Portale, Archive des Seltsamen, ein Angebot an Möglichkeiten, das zugleich verstörte und berauschte. Es war, als würde sich die Welt selbst in eine Datei verwandeln – offen, zugänglich, jederzeit downloadbar.

Doch mit der Zeit, mit jedem neuen Profil, jeder Suchanfrage, hörte die Welt auf zu wachsen, und sie wurde plötzlich wieder kleiner und kleiner. Die Algorithmen lernten schneller, als man begriff, dass man selbst nur ein Knotenpunkt im Netz war. Was einst inspiriert hatte, wurde zunehmend zu einer Dauerschleife des Vertrauten und Gleichen. Der Bildschirm der einst zum Fenster geworden war, spürte den Druck des Rahmens. Das Glas wollte zerbersten.

Die unendlichen Möglichkeiten wurden strukturiert, sortiert, gefiltert. Mit den Jahren wurde das Netz weniger ein Ort des Entdeckens, sondern eher ein Spiegel unserer selbst – personalisierte Ergebnisse, kuratierte Inhalte. Was einst wie ein Freund wirkte, der uns inspirierte, wurde ein Algorithmus der uns kannte, bevor wir uns selbst verstanden. Diese Version von uns faszinierte und erdrückte uns zugleich. Mit jedem Klick formte sich langsam und doch sichtbar ein Double, das zunehmend unbarmherziger wurde. Eine verdoppelte Realität, in der jede Wahrheit, jede Identität, jede Nachricht einen verzerrten Zwilling erhielt. Ein Spiegel, der nichts reflektierte, aber alles verzerrte, alles deformierte.

Fake News waren dabei nicht bloß Falschmeldungen – sondern das Symptom eines Systems, das Wahrheit als veraltete Kategorie betrachtete. Aus der Mode gekommen. Nicht einfach nur Lügen, sondern eine Art Doppelgänger der Wahrheit. Sie existierten nicht, um die Wahrheit zu ersetzen, sondern um die Wahrheit als Lüge weiterleben zu lassen.

Je makelloser und besser gemacht unsere digitale Kopie, desto deutlicher wurde unsere Unvollkommenheit. Wir erkannten uns in unseren Avataren und Bildern, doch diese Wiedererkennung war keine Bestätigung, sondern ein Urteil, eine vernichtende Kritik. Eine Verurteilung, wenn man so will. Plötzlich gab es keine Menschen mehr ohne Depression. Kanntet ihr welche? Wir nicht. 

Das Netz verlangte Perfektion und war gleichzeitig ein endloses Archiv des Versagens. Ein Spiegel, in dem wir nicht nur das Wiedererkennbare sahen, sondern vor allem das Unzulängliche. Der Algorithmus wurde zum gnadenlosen Chronisten unserer Fehler, unserer Inkonsistenzen, unserer Unvollkommenheit, unsere Hässlichkeit. Wir sprechen hier von Gewalt. Gewalt die in der Spannung zwischen der scheinbar perfekten Kopie und der Realität des Körpers, der chaotisch, verletzlich, unvorhersehbar bleibt, liegt. Wir konnten nicht mehr mithalten. Unsere Körper, unsere Gedanken, unsere Leben. Wir fielen in die Lücke zwischen Erzählung und Erfahrung. Und wir fielen tief. Die digitale Verdoppelung hatte uns gezeigt, was wir nicht waren. Darin lag am Ende der Anfang vom Ende. Der Anfang, wenn man so will.

Aber ja wir waren natürlich, wie alle Kinder, auch sehr naiv. Naiv zu glauben, dass ein Medium aus militärischen Strukturen und kapitalistischen Investitionen jemals auch nur ansatzweise egalitäre und emanzipatorische Züge ins sich tragen könnte. Das Internet war nie eine friedvoll schwebende Cloud, kein luftiger, abstrakter Ort, sondern eine Ansammlung physischer Rechenzentren, verbunden durch Kabel, die oft entlang kolonialer Handelsrouten verliefen. Die Geometrie der digitalen Räume folgte genauso den Linien von Macht und Kapital, wie ihre analoge Gegenseite. Ganz wie die Städte, in denen wir lebten, gab es die sicheren Viertel – die Zonen der globalen Eliten, abgeschirmt durch Firewalls, Passwörter und Mitgliedsgebühren. So perfekt überwacht, dass jede Bewegung zum Verbrechen wurde. Und es gab die unsicheren Orte – die Daten-Müllhalden, die Spam-Fabriken, die toxischen Zonen von Hass und Desinformation.

Es gab Räume, die man nicht betreten konnte,
und andere, die man nicht betreten wollte. 

Die großen Männer und ihre Plattformen hatten gelernt, dass jede Filterblase ein Markt und Wut profitabler als Argumentation war. Dass Radikalisierung Engagement bedeutet und Polarisierung Marktwert schafft. Dass potenziell jeder freie Raum, ein freier Markt sein kann. Wie kleine Buben saßen sie vor ihren riesigen, undurchdringlichen Maschinen, die Träume verschlangen und Kontrolle ausspuckten.

Die Vorstellung von individueller Kontrolle über die digitale Präsenz hatte sich komplett aufgelöst. Die Dominanz der Plattformen bedeutete, dass die meisten Menschen in digitalen Ökosystemen lebten, die sie weder verstehen noch kontrollieren konnten. Die Dummheit und Faulheit, die damit einherging, trug ihr Übriges bei zu diesem traurigen Leben am Ende der Zeit. Social Media hatte sich von einem Ort des freien Austauschs zu einem Machtinstrument entwickelt, das die Polarisierung verstärkte. Plötzlich waren die digitale Räume zur Bühne für autoritäre und reaktionäre Machtinszenierungen geworden.

Die parallelen Entwicklungen des weltweiten Rechtsrucks und der Post-Globalisierung führten schließlich zur letzten Phase des Internets. Social Media wurde zunehmend von staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren kontrolliert. Rechte Narrative dominierten die Plattformen, während alternative Stimmen algorithmisch verdrängt wurden. In der multipolaren Welt entstanden isolierte digitale Ökosysteme, die die Idee eines globalen Mediums obsolet machten. Was blieb, war eine dystopische Version des Internets, in der Kontrolle und Konsum die zentralen Prinzipien waren.  Die interaktive, gemeinschaftsorientierte Kommunikation wurde durch ein Modell ersetzt, das stärker einer Freizeitpark-Ökonomie glich – geprägt von Bezahlung, Überwachung und Konsumzwang. Diese Entwicklung mündete in einer kollektiven algorithmischen Ermüdung, bei der Nutzer*innen den Plattformen den Rücken kehrten.

Das Internet, wie wir es einst kannten, war tot – aber sein Geist lebte weiter. Es ist ein heimgesuchtes Medium geworden, ein Geisterraum, der durch die Reste seiner eigenen Welt schwebt, fragmentiert, entfremdet und von dystopischen Zuckungen gezeichnet. Die Plattformen funktionieren weiter, aber sie tun dies wie tote Maschinen, die nur noch ihre eigenen Überreste verwalten. Ein Raum der Endlosschleifen, der weder Vergangenes wirklich abschließt noch eine Zukunft eröffnet. Ein Ort, an dem die Zukunft blockiert wird. Ein Medium der Reaktion. Eine zombifizierte Infrastruktur. Fragmentierung und Einsamkeit am Ende der Vernetzung: die dystopische Ironie der digitalen Nachwelt.

(countryboy98)